Tagungsthema

Un/Commoning Anthropology:

Sozial- und Kulturanthropologie und die Frage, was – wem – gemein sein soll 

Angesichts multipler Krisen und gefährdeter Lebensgrundlagen ist ‚Commoning‘ auch in den ethnologischen Wissenschaften zunehmend in den Fokus der Debatten gerückt. Meinten commons zunächst klassische Allmenden – gemeinschaftlich verwaltete Ressourcen — erweitert die Diskussion unterschiedlicher Formen des Commoning den Blick auf dezentrale, häufig widerständige Praxen kapitalismus- und machtkritischer Selbstbestimmung. Oft wird Commoning –im Deutschen häufig als Vergesellschaftung übersetzt –in einer Tradition utopischer Gesellschaftsentwürfe verortet. Im Zentrum des Commoning steht der Versuch, Ressourcen, die staatlich verwaltet oder privatwirtschaftlich vermarktet werden, zur Grundlage neuer Solidargemeinschaften unterschiedlicher Größe und Reichweite zu machen. Angesichts des Anthropozäns als ‚kontaminierter Epoche‘ setzt Commoning auf Formen grenzüberschreitender Solidarität, nachbarschaftlicher Verantwortung und gemeinsamer Sorge zur Lösung planetarischer Herausforderungen. So sollen Luft, Wasser und Boden, oder Biodiversität, kulturelles Erbe und unterschiedliche Wissensformationen als commons einer extraktivistischen Ausbeutung und staatlicher Aneignung entzogen und als gemeinsame Lebensgrundlage zukünftiger Generationen solidarisch verwaltet und bewahrt werden. Dies bedeutet etwa auch, Gesundheit nicht vornehmlich als Eigenschaft individueller Körper, sondern als eine Frage relationaler und kollektiver Formen von Wohlbefinden, auch über Artengrenzen hinweg, zu diskutieren.

Zunehmend treten dabei in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens Akteursgruppen auf, die in der (kolonialen und post-kolonialen) Vergangenheit von politischer und kultureller Teilhabe ausgeschlossen waren und bis heute marginalisiert werden. Ihre Ansprüche auf Commoning von Ressourcen, Archiven und gesellschaftlichen Zukünften fordern herrschende Klassifikationsformen und Eigentumsansprüche heraus. Neue Formen der Kooperation und Wissensproduktion sollen zu einer radikalen Neubestimmung sozialer Beziehungen führen und in praktische Kollaboration übersetzt werden. Dies verlangt, Annahmen und Wissensbestände zu hinterfragen, die als „gesunder Menschenverstand“, common sense, normativ gesetzt werden und dabei immer auch Zugehörigkeiten und Ausschlüsse produzieren.

Zugleich werden Ansprüche an Commoning in den vermachteten Beziehungen internationaler (Wissens-)Ordnungen zunehmend von Staaten, supranationalen Organisationen und Unternehmen kooptiert und institutionalisiert. Um sich dieser Kooptionslogik zu widersetzen und Ansprüche auf Differenz aufrecht zu erhalten, wird vermehrt Uncommoning als widerständige Praxis zur Geltung gebracht, die wir im Deutschen als „Entgesellschaftung“ bezeichnen können. Soziale Räume, Ökosysteme, nicht-westliche Ontologien und Formen von more-than-human Koexistenz sollen dem Zugriff hegemonialer Gesellschaftsformationen, und der Kooptierung durch staatliche Autoritäten und einer alles durchdringenden Vermarktungslogik entzogen werden. Gerade digitales Gemeingut steht in einem Spannungsfeld, in dem einerseits Menschen von erweiterter Teilhabe profitieren können, andererseits Technologien und Medieninhalte zunehmend in den Privatbesitz transnationaler Konzerne übergehen oder politisch ausgebeutet, manipuliert und domestiziert werden.

Als Reaktion auf die Krisen der postkolonialen Weltordnung und die Auswirkungen eines zunehmend destruktiven Kapitalismus geraten Utopien solidarischen Gemeinschaftens, widerständiger Abgrenzung aber auch autoritärer Identitätspolitik in Konflikt, übersetzen sich ineinander, und produzieren vielfältige An- und Ausschlussprozesse.

Die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie 2025 lädt dazu ein, sich kritisch mit Möglichkeiten und Politiken des Un/Commoning – oder der Ver/Entgesellschaftung – auseinanderzusetzen, wie sie gegenwärtig angesichts multipler Krisen für einen nachhaltigen und gerechten Umgang mit unserem Planeten und miteinander diskutiert werden. Sie fordert dazu auf, die Frage, was – wem – gemein sein kann, als Teil situierter und lokalisierter Auseinandersetzungen im Lichte aktueller ethnographischer Forschungen neu zu diskutieren. Dies beinhaltet nicht zuletzt die kritische Reflexion, ob, wie und von wem die Wissensbestände, Methoden und Theorien des Faches zur Lösung grenzüberschreitender Herausforderungen herangezogen werden können oder sollten.