Tagungsthema

Umstrittenes Wissen: Ethnologische Perspektiven

 

Wissen, das durch Forschung generiert wird, ist derzeit in einem seit dem Beginn der Moderne ungekannten Ausmaß umstritten – und damit auch das Verständnis von Wissenschaft und ihrer gesellschaftlichen Position. Auf der einen Seite wird fachliche Expertise mehr denn je angerufen, sie wird als Legitimationsquelle für gesellschaftspolitische oder auch individuelle Entscheidungen herangezogen. Auf der anderen Seite wird derartige Expertise als befangen zurückgewiesen oder durch Gegenpositionen, die nicht immer empirisch begründet sind, infrage gestellt. Rechtspopulistische Akteur*innen machen sich den strukturellen Wandel der Medienkulturen zunutze, um eine generelle Wissenschaftsskepsis zu befeuern, beispielweise, indem sie Fakten mit Fälschungen, Lügen und Verzerrungen gleichstellen. Wie soll die Ethnologie, bzw. Sozial- und Kulturanthropologie angesichts dieser Entwicklungen mit der Herausforderung umgehen, den methodologischen Status von Evidenz im Sinne zeit- und positionsgebundener Gültigkeitshorizonte transparent zu machen und zu verteidigen?

Gleichzeitig fordern Bewegungen wie BlackLivesMatter, MeToo und CiteBlackAuthors hegemoniale Wissenssysteme in privilegierten institutionellen Räumen des globalen Nordens heraus und verweisen zum Beispiel auf vorhandene Rassismen. Erneut stellen sie die soziokulturelle Situiertheit der Generierung von Wissen und ihre Konditionierung durch Ungleichheit und Machtgefälle in den Mittelpunkt der Kritik. Die Ethnologie muss eine Analyse umstrittener Formen ihrer Wissensgenerierung leisten. Sie muss untersuchen, wie Wissen in einer Situation wachsender globaler Ungleichheit von welchen Akteur*innen und Institutionen produziert, stabilisiert und legitimiert wird. Wie interagieren multiple Epistemologien und Ontologien? Welche Folgen haben Forderungen nach der Dekolonisierung von Wissen und universitären Institutionen für ethnologische Wissenspraktiken? Wie geht die Ethnologie mit der politischen Dimension ihrer Forschungsfragen um? Welche Modelle dekolonialer, partizipativer, aktivistischer und kollaborativer Forschung bestehen in der Koproduktion von Wissen und dessen Repräsentation? Wo liegen deren Grenzen? Welche Solidaritäten sind denkbar und praktikabel? Wie steht es um die Reflexion der eigenen Privilegien sowohl auf Seiten der ethnologisch Forschenden als auch derjenigen, die sie kritisieren? Wie spiegeln sich diese Prozesse in den Institutionen und Praktiken des Faches wider (z.B. in der Arbeitsaufteilung, in Forschungsverbünden, in Kampagnen wie #IchBinHanna, oder in der Politik des Zitierens)?

Über diese Selbstreflexion hinaus ist auch eine ethnologische Analyse zunehmend umstrittener gesellschaftlicher Wissensprozesse beispielsweise in Bezug auf Identität, Geschlecht, Klasse und Kultur erforderlich. Die Ethnologie kann hier auf eine lange Fachtradition zurückblicken. Von besonderer Brisanz sind gegenwärtige identitätspolitische Auseinandersetzungen, bei denen wir zum Beispiel fragen müssen, inwieweit mit besonderer Sprachmacht und Medienpräsenz ausgestattete akademische Stimmen andere Milieus repräsentieren und wie tragfähig ihre Ansätze zur Analyse globalgesellschaftlicher Ungleichheiten und Asymmetrien sind. Kurz: Wer darf wie über wen sprechen? Kann überhaupt „über“ oder gar „für“ andere gesprochen werden, und falls ja, wie? Hinsichtlich politischer Auseinandersetzungen stellt sich die Frage des Umgangs mit politisch aufgeladenen theoretischen Konzepten (Identität, Zugehörigkeit, Geschlecht, „Rasse“, Differenz, Ungleichheit, Kultur etc.). Wann schlägt ein sensibel gewandelter Sprachgebrauch in (Selbst-)Zensur um und welche Konsequenzen hat das? Was bedeutet es, wenn sich Diskursinseln formieren und verhärten, über deren Grenzen hinweg Kommunikation und Konsensbildung zur Gültigkeit von Wissensbeständen immer schwieriger werden?

Diese Fragen möchten wir bei der DGSKA-Tagung 2023 in München diskutieren, und zwar insbesondere hinsichtlich der Wechselwirkungen zwischen Ethnologie und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit umstrittenem Wissen.